Wir leben in einer Zeit, in welcher sich viele Menschen unglücklich oder unzufrieden fühlen und unter Stress, Angst, Depressionen oder Burnout leiden. Ein Phänomen, das nachdenklich stimmt – ist doch in unserer Multioptionsgesellschaft alles im Überfluss vorhanden und wir dürfen uns relativ sicher fühlen, oder?
Und doch erleben viele von uns einen Mangel an Anerkennung, Bedeutung, Sinn und Zugehörigkeit. Dieser Zustand „stresst“ und schwächt die persönliche, aber auch die gesellschaftliche Resilienz.
Neben der aktuellen Coronakrise befinden wir uns gemäss Prof. Gregor Hasler (Professor für Psychiatrie und Psychotherapie) seit einiger Zeit auch in einer sogenannten Resilienz-Krise.
Resilienz baut auf Bedeutung, Sinn, Freude und stabilen Beziehungen auf.
Vergleiche dazu auch meine beiden Blogs:
Resilienz im Führungsalltag
Resilienz – Gut ausgestattet in Krisen
Nachfolgend beleuchte ich einige Kernpunkte aus dem Buch von Prof. Gregor Hasler ‚Resilienz: Der Wir-Faktor‘.
Diese Resilienz-Krise kann als eine geschwächte Widerstandskraft unserer Gesellschaft bezeichnet werden. Die Ursachen dafür sieht Prof. Hasler
- in erfahrenem Bedeutungsverlust,
- im ungenügenden Eingebunden-Sein in sinnstiftende soziale Kontexte,
- im Mangel an gemeinsamem Sinn und gemeinsamen Werten und
- im Status-Dauerkampf.
Fokus Individualismus
Wir pflegen eine „Selbst-Kultur“, in welcher sich alles vorwiegend um unser eigenes Ego, um Selbstdarstellung und Selbstverwirklichung dreht. Macht, Status, Konkurrenzdenken sind vorherrschend – alles Faktoren, welche die Resilienz schwächen.
Eine solche Ego-Kultur erschwert die Entwicklung stabiler, verlässlicher sozialer Bindungen, welche wir uns mehr als alles andere wünschen. Denn soziale Unterstützung stiftet deutlich mehr Stressschutz als ein durch Selbstfokussierung und Suggestion erhöhtes Selbstwertgefühl. Apropos Selbstwert…
Entgegen allgemeinen Annahmen zeigen empirische Studien, dass Menschen mit einem (vermeintlich) hohen Selbstwertgefühl besonders verletzlich sind und deshalb auf Kritik eher mit Verstimmung, Aggression oder Missachtung reagieren. Ferner haben Menschen mit erhöhtem Selbstwertgefühl auch ein erhöhtes Bedürfnis nach Bewunderung und verfügen oft über wenig Mitgefühl (narzisstische Persönlichkeit).
Soziale Unterstützung ist ein mächtiger Resilienzfaktor
Stress alleine auszuhalten ist ungemein schwieriger als Stress in Anwesenheit einer fürsorglichen Person zu verarbeiten.
Studien belegen, dass Einsamkeit körperlichen Schmerz verursacht. Denn ohne Freunde leben wir so ungesund, als wären wir fettleibig oder rauchten täglich 15 Zigaretten. Im Gegensatz dazu dämpfte die Anwesenheit von Freunden die Ausschüttung des Stresshormons Cortisol bei einer Gruppe von Probanden, die vor einem Publikum frei sprechen oder unter Druck knifflige Kopfrechenaufgaben lösen mussten.
Unbewusst spielt dabei das „Wir-Gefühl“ eine zentrale Rolle. Ganz nach dem Motto: Gemeinsam sind wir stärker! Wir schaffen das!
WIR-Faktor
Der Kern des WIR-Faktors basiert auf der Vorstellung, dass wir Menschen im Wesentlichen alle gleich sind. Diese Annahme erhöht unser Verbundenheitsgefühl.
Thich Nhat Hanh (buddhistischer Lehrer) drückte es wie folgt aus: Stellen wir uns die Wellen eines riesigen Meeres vor. Wir sind das Meer und jeder von uns ist eine Welle. Jede Wellenbewegung hängt von der Bewegung anderer Wellen ab. Wir können uns das ganze Leben mit Höhe, Form und Schönheit, mit Anfang und Ende jeder Welle auseinandersetzen. Am liebsten beschäftigen wir uns mit der eigenen. Wie hoch ist sie? Sollte sie nicht in einer ganz anderen Wellenumgebung auftauchen? Aber: Je weniger wir uns um unsere eigene Welle kümmern, desto besser erkennen wir die Identität zwischen Welle und Meer.
Doch dieses „Wir“ kommt zunehmend abhanden. Wenn beispielsweise auf einer Party oder im Restaurant alle nebeneinander mit ihren Smartphones interagieren, dann ist dies kein reales WIR mehr.
Der Verlust von Gemeinsamkeitserfahrungen ist übrigens EINE Ursache für die in unserer Gesellschaft gefühlte Zunahme von Stress.
Status
Statusdenken und andere soziale Unterschiede sind in menschlichen Gemeinschaften weit weniger ursprünglich und natürlich, als wir irrtümlicherweise annehmen.
Viele Studien zeigen auf, dass ein tiefer objektiver sozialer Status (wird gemessen an Ausbildungsstand oder am Einkommen) die Resilienz einer Person schwächen kann.
Dabei gilt zu beachten, dass die Resilienz einer Person aus zwei Teilen besteht:
1. RESISTENZ: Fähigkeit, Stress auszuhalten ohne dass das Stresssystem aktiviert wird
2. STRESSANPASSUNG: Fähigkeit, eine Stressreaktion nach kurzer Zeit zu stoppen
Der objektive soziale Status wirkt sich vorwiegend auf die Stressanpassung aus.
Diese Tatsache verdeutlicht, dass Vergleiche zu vermeiden eine wirksame psychische Strategie gegen Statusstress sein kann.
Verdrängung der intrinsischen Werte
Die Amerikanische Psychologin Jean Twenge belegte mittels Studien, dass intrinsische (von innen kommende) Werte wie z.B.
- innere Unabhängigkeit
- stabile Moralvorstellungen
- kulturell verwurzelte Sicherheit
- soziale Zugehörigkeit
- enge Freundschaften
- Gemeinschafts- und Familiensinn
von extrinsischen (von aussen kommenden) Werten verdrängt werden wie z.B.
- Einkommen,
- jugendliches Aussehen und
- materieller Wohlstand (also Status)
Dies hat zur Folge, dass unser „offizieller Staus“ – d.h. die durchschnittliche Beurteilung unserer Leistung durch andere – an Bedeutung zunimmt. Auf unsere heutige Gesellschaft wirkt sich diese Tatsache als belastend aus, da Statusdenken unsere Resilienz schwächt.
Die intrinsische Motivation führt im Durchschnitt zwar zu weniger neuen Freunden, aber zu einer höheren Qualität unserer Freundschaftsbeziehungen.
Soziale Medien wie Facebook treiben den Dauerkampf um Status an. Das ununterbrochene Posten von Fotos dient eher dazu, unseren Status zu markieren als unsere soziale Verbundenheit zu fördern.
Fazit
Die Bedeutung eines sozialen Netzwerks hat mit unserem Bindungsbedürfnis zu tun. Es lohnt sich deshalb, Zeit und Energie in persönliche Kontakte zu investieren. Denn stärkere soziale Bindungen können unsere Widerstandskraft gegen aufreibende Herausforderungen erhöhen.
Die Lösung unseres Stressproblems wird nicht sein, unsere Belastungen weiter zu reduzieren, sondern unsere sozialen, sinnstiftenden und lustvollen Tätigkeiten zu verstärken.
Was kann man gegen den zermürbenden Dauerkampf um Status und Anerkennung tun? Wichtig scheint, wettbewerbsfreie Zeiten und Zonen zu schaffen sowie das häufige Hinterfragen extrinsischer, materialistischer Werte.
Verbundenheit mit der Gegenwart und unseren Mitmenschen kann unsere Resilienz fördern!
In diesem Sinne wünsche ich uns allen im Hier und Jetzt viel Energie für die Pflege und den Aufbau unserer persönlichen sozialen Beziehungen!
Ihre
Gabriela Heller